Die Alevitische Glaubensauffassung

 

Die alevitische Glaubensauffassung basiert auf Werten wie Liebe, Respekt und Toleranz dem

Nächsten gegenüber. Sie ist enstanden aus der Symbiose von altislamischer Mystik,

frühanatolischer Kulturen und altasiatischem Brauchtum und stellt in ihrem jetzigen Status somit

ein Mosaik aus verschiedenen Einflüssen dar, das als Ganzes wiederum im laufe der

Jahrhunderte des Zusammenverschmelzens zum eigenständigen Glauben geworden ist.

Das Alevitentum ist eine Glaubens-, Lebens- und Lehrform die entstanden ist aus den

typischen und eigenen Gegebenheiten Anatoliens und ist somit eine für den anatolischen

Menschen bestimmende Religion. Die zahlreichen multikulturellen Einflüsse auf den

anatolischen Menschen und seine weitverzweigte Herkunft haben sich im alevitischen

Gedanken- und Glaubensgut prägend niedergeschlagen und das Alevitentum als den

humanistischen Glauben Anatoliens entstehen lassen.

" Erkenne das, was Dir fehlt, suche nach Vernunft,

 

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zeige nicht auf anderer Makel, mein Herz,

betrachte vielmehr alle 73 Nationen mit gleichem Auge,

Hak (Gott) hat sie erschaffen und geliebt, mein Herz,

sei dem nicht wider."

Ali Ilhami Dede ( alevitischer Dichter des 19.Jahrhunderts )

Das Alevitentum ist aber vor allem eine soziale Vorstellung und eine humanistische

Philosophie, wonach der Mensch das wertvollste und reinste Geschöpf auf Erden ist . Alles

existiert im Menschendasein, sofern der Mensch dies selber erkennt (Selbsterkenntnis) und

sein Leben danach richtet und sich stets von der Menschenwürde leiten läßt.

" Suche Hak (Gott) nicht in der Fremde,

halte Dein Herz im Reinen, so ist Hak in Dir;

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Die Alevitische Glaubensauffassung

Verachte die Menschen nie,

denn alles haben wir im Menschendasein erkannt,

Ihr Weisen."

Pir Sultan Abdal (bedeutendster alevitischer Volksdichter des 15.Jh.)

Ein weiterer wichtiger Aspekt des alevitischen Glaubens ist die stete Nähe zur Wissenschaft

und der Versuch, die Welt mit der menschlichen Vernunft zu fassen. Hierzu hat sich

insbesondere Haci Bektas Veli, der alevitische Mystiker und Ordensgründer des nach ihm

benannten Bektaschitums, zu Wort gemeldet und die alevitische Verbindung zur Wissenschaft

folgendermaßen beschrieben :

Nur durch Vernunft und Wissen kann Licht in die Finsternis der Gedanken gebracht werden. Mit

Wissen und Vernunft können Schlechtigkeit, Haß, Vorurteile und Ignoranz besiegt werden. Man

kann durch sie zu Frieden, Freundschaft und Wohlstand gelangen.

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Die Alevitische Glaubensauffassung

" Der Weg, der nicht zur Wissenschaft führt, endet in der Finsternis. "

Alle alevitischen Glaubenslehrer und Dichter haben daher das alevitische Volk stets zur Suche

nach mehr Wissen und Bildung angehalten, da sie hierin den einzig wahren Weg sahen.

"Wissen ist, zu wissen,

Wissen ist, Selbstkenntnis.

Kennst Du Dich selbst nicht,

so wirst Du nie wissen."

Yunus Emre (1250-1320, einer der wichtigsten alevitischen Dichter und Mystiker)

Der alevitische Glaube sieht in der Wissenschaft den einzigen Weg zur Wahrheit, weshalb er

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Die Alevitische Glaubensauffassung

die Erfüllung des Menschen einzig durch Glaubensrituale als unmöglich postuliert. Vielmehr

erwartet er von seinen Anhängern die Nähe zur Vernunft als alleinigen Weg zur

Vollkommenheit des Menschen.

"Glaube nicht, Du seist frommer

durch Fasten, Pilgerfahrt und Gebetsrituale.

Zur Vollkommenheit als Mensch (Insan-i kamil)

bedarf es der Vernunft."

Misri-Niyazi (Dichter des 17.Jh.)

Das Alevitentum hat seine Ansichten von Liebe, Vernunft und Toleranz in die sozialen Regeln

für seine Anhänger einbezogen. Dies spiegelt sich insbesondere in den drei Grundprinzipien

der sozialen Ethik des Alevi wider, die als Trinität der "Hand, Zunge und Lende" im täglichen

Leben zum Leitfaden geworden sind. Die strenge Einhaltung dieser sozialen Regeln sichert die

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Die Alevitische Glaubensauffassung

Aufnahme des Menschen in die alevitische Gemeinde und seinen Verbleib in ihr. Ein Verstoß

kann dagegen mit dem Ausschluß aus der Gemeinschaft oder der Ayn-i Cem (rituelle

Zusammenkunft zum Zwecke des gemeinsamen Gebetes, Schiedsgericht usw.) enden.

1. Beherrsche Deine Hände: nicht töten, nicht stehlen, nichts und niemandem Gewalt

antun...

2. Beherrsche Deine Zunge: nicht fluchen, nicht Übles reden, nicht lügen...

3. Beherrsche Deine Lenden: zügle Deine Triebe, sei Deinem Lebenspartner treu,

Monogamie, sei anständig...

Die Ayn-i Cem dient als rituelle Zusammenkunft der Alevi zum Zwecke des gemeinsamen

Gebetes, der Rechtgebung und der Aufnahme in die Gemeinde. Sie findet in eigens hierfür

vorgesehenen großen Räumlichkeiten, jedoch nie in einer Moschee, statt und ist der wichtigste

Ort zur Glaubensbekundung im Alevitentum. Die Ayn-i Cem wird nach einem streng

vorgegebenen Muster unter der Leitung des religiösen Oberhauptes der Gemeinde, dem Dede,

abgehalten. Sie ist ein Ort, an dem Haß, Feindschaft und Hochmut abgestriffen werden, um

Frieden, Freundschaft, Toleranz, Liebe und Achtung herrschenzulassen.

Ein wichtiger Bestandteil ist die Rezitation alevitischer Gedichte in Begleitung der Saz, der

anatolischen Langhalslaute, der Semah-Tanz und der Gesang.